5. Öffentliches Hearing „Sexueller Kindesmissbrauch und Schule“ endet mit konkreten Forderungen an Kultusministerkonferenz


23.03.2022 – Der Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt in der Schule muss verbessert werden. Gleichzeitig bieten Schulen ein enormes Potential, um für gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche zum Schutzraum zu werden. Das waren zentrale Erkenntnisse aus den öffentlichen Gesprächen der Kommission mit Betroffenen, Expertinnen und Experten.


Das öffentliche Hearing wurde aufgrund der Corona-Pandemie als Hybridveranstaltung durchgeführt. Rund 80 Gäste verfolgten die Diskussionen vor Ort in der Akademie der Künste, während sich zeitweise bis zu 1.000 Personen im Livestream zuschalteten. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel und die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, bekannten sich in ihren Grußworten zu einem verstärkten Engagement gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. So soll unter anderem der Nationale Rat verstetigt werden und das UBSKM-Amt eine gesetzliche Grundlage erhalten.

Kommissionsmitglied Dr. Christine Bergmann wies zum Auftakt des Hearings darauf hin, dass die Kommission bewusst das Thema Schutzraum und Lernort Schule gesetzt habe, weil sie die zentrale Rolle von Schulen und ihre Potentiale im Kampf gegen sexuellen Missbrauch anerkenne. Die Folgen von sexuellem Missbrauch wirkten sich immer wieder gravierend auf die Bildungsbiografie von Betroffenen aus. Gleichzeitig betonte Bergmann:

Die Erkenntnis, dass Schule auch Tatort sein kann, hat sich nach unserer Wahrnehmung noch nicht in ausreichendem Maße an staatlichen Schulen durchgesetzt.

Dr. Christine Bergmann

Anschließend berichteten Betroffene, die unter einem Pseudonym auftraten, von Missbrauch an Schulen. Anna berichtete von sexualisierter Gewalt durch einen Lehrer. „Ich dachte, das gehört dazu. Wenn er das als Erwachsener macht, ist das wohl richtig“, erzählte sie über die vermeintliche Beziehung, die ihr Lehrer mit ihr einging, als sie 15 Jahre alt war. Das missbräuchliche Verhalten endete erst nach vielen Jahren. Es habe lange gedauert, ehe sie das Wort Missbrauch für sich anerkennen konnte, erzählte Anna. Sie habe erst im Internet recherchieren müssen, was das überhaupt heiße.

Lauris hat in seiner Kindheit sexualisierte Gewalt durch einen Lehrer erlitten. Erst mit einer Einladung zu einem Klassentreffen vor einigen Jahren, bei der der Täter auf der Gästeliste stand, kamen die schmerzlichen Erinnerungen daran wieder hoch. Lars teilte seine Geschichte mit allen Mitschülerinnen und Mitschülern. In seinem Jahrgang gab es noch weitere Betroffene. Doch die Schule war nicht an einer Aufarbeitung interessiert:

Die erste Antwort der Schule war so niederschmetternd für mich: ‚Bei uns ist alles super, ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen, rufen Sie doch mal beim Regierungspräsidium an.‘

Lauris

Brigitte Tilmann, Mitglied der Kommission, berichtete im anschließenden Panel, dass Lars‘ Geschichte eine Blaupause von dem sei, was sie in der Aufarbeitung an der hessischen Elly-Heuss-Knapp-Schule erlebt habe.

„Dieses ‚Mach mir doch die Schule nicht kaputt.‘, ‚Bei uns passiert so etwas nicht‘, das sagen alle. Es passiert eben doch und man will es nicht wissen.“

Brigitte Tilmann

Dr. Meike Winkler ist Juristin und Leiterin der „Expert*innengruppe gegen sexuelle Belästigung gegenüber Kindern und Jugendlichen durch schulisches Personal“ beim Bremer Senat. Die interdisziplinäre Gruppe spricht Fälle grenzwertigen Verhaltens durch Lehrkräfte an Schulen an. Ihrer Erfahrung nach haben viele Kollegien Angst und gehen davon aus, dass eine gute Schule eine sei, an der es keine Missbrauchsfälle gebe. Winkler plädierte dafür, dieses Leitbild umzuändern und zu sagen: „Eine gute Schule ist eine, die gut mit solchen Vorfällen umgeht!“. Katharina Kracht, Lehrerin, Mitglied der Expert*innengruppe und selbst Betroffene aus dem Kontext der evangelischen Kirche, ergänzte, dass es in vielen Kollegien zu wenig Kenntnisse über sexuellen Missbrauch gebe. So wüssten die meisten nicht, dass Jugendliche kognitiv nicht in der Lage seien, eine missbräuchliche Beziehung mit einem Lehrer oder einer Lehrerin einzuordnen, oder dass die Täter und Täterinnen sehr manipulativ seien.

Blick auf Podium 1 mit Brigitte Tilmann, Edith Glaser, Moderatorin Anke Plättner, Meike Winkler und Katharina Kracht
Podium mit Brigitte Tilmann, Edith Glaser, Moderatorin Anke Plättner, Meike Winkler und Katharina Kracht (v. links)

In der Diskussion erörterten die Expertinnen, dass verbindliche Leitlinien Schulen und Behörden viel Sicherheit geben könnten, um bei einem auftretenden Fall verbindliche Wege einzuschlagen. Eine unabhängige Anlaufstelle könne den Betroffenen helfen. Und schließlich müsse in einer Schulgemeinschaft die Sprachfähigkeit gefördert werden, damit Betroffene sich Vertrauenspersonen gegenüber öffnen können. Den letzten Punkt unterstrich aus dem Publikum heraus einer der anwesenden Schülersprecher:

Es braucht eine Aufklärung, ab wann etwas eine Grenzüberschreitung ist. Oft ist von Betroffenen das Wissen nicht da, was geht jetzt zu weit? Alle müssen darüber Bescheid wissen, dass es einen Ausweg gibt.

Julius Jasperbrinkmann, Landesschülervertretung Hessen

Zu Beginn des Nachmittags berichtete Lea über Gewalt und sexualisierte Gewalt, die sie an einer weiterführenden Schule durch Mitschüler erfahren hat. Als besonders niederschmetternd empfand sie die Reaktion einer Lehrerin, der sie vom Mobbing erzählt hatte. Die Lehrerin erklärte ihr, so etwas klärten Gleichaltrige besser unter sich - es würde nur schlimmer, wenn Erwachsene sich einmischten. Im Rückblick könne sie aus dieser Reaktion eine Überforderung herauslesen, so Lea. Dennoch wundert sie sich, dass sie nicht als Mensch in Not wahrgenommen wurde, dem geholfen werden musste. Das gelte auch für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler: „Wenn zwei bis drei Leute was gesagt hätten, als ich aus der Klasse rausgetragen wurde, wäre es wahrscheinlich nie so weit gekommen.“

Blick auf Regiebildschirme mit Portrait von Lea, dahinter in Unschärfe Köpfe des Publikums
Regiebildschirme mit Portrait von Lea beim Hearing "Sexueller Kindesmissbrauch und Schule"

Johanna berichtete aus einer anderen Perspektive über sexuellen Kindesmissbrauch und Schule. Für sie war das Klassenzimmer ein Schutzraum, in dem sie sich von der sexuellen Gewalt, die sie durch den Großvater und Vater erfuhr, erholen konnte. In der Schule sei sie oft müde und nachlässig gewesen oder habe ihre Hausaufgaben nicht dabeigehabt. Die Lehrerin erkannte das und schob ihr im Unterricht einen Zettel zu. Darauf stand: „Es ist absolut okay, dass es dir gerade nicht gut geht und du nichts machen kannst." Die kleinen Atempausen hätten ihr erlaubt, Kraft zu tanken und damit wieder nach Hause zu gehen, so Johanna.

Ich bin auch als Erzieherin tätig. Man stellt sich vor, man muss im Umgang mit Missbrauch das große Wunder vollbringen. Aber es gab auch kleine Dinge, die mich gestärkt haben.

Johanna

Im anschließenden Panel ging es um die Möglichkeiten, die Schule zu einem Schutzraum vor sexualisierter Gewalt werden zu lassen. Die Schuldirektorin Frauke Kessler-Betz berichtete vom Prozess, an ihrer Schule ein Schutzkonzept zu erarbeiten: „Dadurch, dass wir das anlasslos gemacht haben, war die erste Frage: Gibt’s was bei euch an der Schule? Und dieser Satz ‚Bei uns doch nicht‘, das waren die üblichen Widerstände gegen das Thema.“

Prof. Dr. Sandra Glammeier von der Hochschule Niederrhein hat im Rahmen eines Forschungsprojekts Lehrerinnen und Lehrer sowie Lehramtsstudierende befragt, was sie über sexuelle Gewalt wissen. Grundsätzlich seien Grund- und Förderschulen besser aufgestellt als weiterführende Schulen. Insgesamt müsse sie aber resümieren, es sei kaum bis gar kein Wissen vorhanden. Selbst Lehrkräfte, die Präventionsarbeit machten, hätten angegeben, sich nicht stark mit sexueller Gewalt beschäftigt zu haben oder kompetent zu sein. „Und dann ist der Subtext immer: ‚Sprich mich nicht an, das überfordert mich.‘“, so die Professorin.

Prof. Dr. Sabine Andresen, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt und ehemalige Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, warnte davor, die Prävention allein der Schulsozialarbeit zuzuschreiben. Dann werde es delegiert, dabei sei es wichtig, die ganze Schulgemeinschaft- Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern- in Schutzkonzepte mit einzubinden. Frauke Kessler-Betz ergänzte, dass dies ein kontinuierlicher Prozess sei:

Ein Schutzkonzept im Sinne von Papier, das in der Schublade landet, ist nicht nachhaltig. Es muss gelebt werden!

Frauke Kessler-Betz

Podiumsgäste in Nahaufnahme: Sandra Glammeier und Frauke Kessler-Betz
Podiumsgäste in Nahaufnahme: Sandra Glammeier und Frauke Kessler-Betz

Im abschließenden Panel mit Gesprächspartnerinnen aus Politik und Berufsverbänden machte Dr. Manuela Stötzel, kommissarische Leiterin des UBSKM-Amtes, deutlich, dass Prävention, Intervention und Aufarbeitung zusammengehören: „Wer Prävention macht, muss auch Intervention können, der wird auf Fälle stoßen. Und der muss auch Aufarbeitung können. Es ist wichtig, dass dieses Thema nicht immer wieder runterrutscht, Stichwort ‚Flucht in die Prävention‘“.

Dr. Stefanie Hubig, Ministerin für Bildung des Landes Rheinland-Pfalz, räumte ein, dass die Schulen bisher den Fokus auf die Prävention gelegt hätten: „Die Frage der Aufarbeitung haben wir noch nicht in dem Maße in den Blick genommen, wie es nötig ist.“ Schule gehe zum Teil davon aus, dass man einfach nur gut in der Prävention sein müsse, so dass es keine Aufarbeitung brauche. Hier müsse die Politik jedoch sichergehen, dass das Lehrpersonal wisse, wie man mit Fällen umgehe. Leitfäden und Fortbildungen könnten dazu beitragen.

Prof. Dr. Elke Kleinau, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE), und die Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, verpflichteten sich dazu, Aufarbeitungsprozesse in ihren eigenen Organisationen voranzubringen. Beide hätten etwa der Reformpädagogik nahegestanden und sich in Vorgänge in der Odenwaldschule „nicht eingemischt.“ Um Prävention und Aufarbeitung an den Schulen selbst sicherzustellen, müssten diese aber auch die finanziellen Ressourcen dafür erhalten.

Blick auf das Podium mit Manuela Stötzel, Moderatorin Anke Plättner und Maike Finnern. Links großer Videobildschirm mit Stefanie Hubig
Blick auf Podium und Videobildschirm zu Perspektiven der Schulpolitik auf sexuellen Kindesmissbrauch

Christine Bergmann bedankte sich zum Abschluss bei allen Teilnehmenden, vor allem den Betroffenen, die ihre Geschichte geteilt hatten, und erinnerte:

Es gibt die Pflicht zur Aufarbeitung. Die Betroffenen haben das Recht darauf, dass klar wird, warum ihnen nicht geholfen wurde. Und die Institutionen haben die Pflicht, die Verantwortung zu übernehmen.

Dr. Christine Bergmann

Die rege Beteiligung auch im Publikum vor Ort führte dazu, dass zum Abschluss ein Papier mit drei Forderungen verabschiedet wurde. Darin appelliert die Aufarbeitungskommission an die Kultusministerkonferenz, verpflichtende Fortbildungen für Lehrkräfte und Schulleitungen zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche einzuführen. Zweitens sollte die Einführung von Schutzkonzepten mit dauerhafter Partizipation von Schülerinnen und Schülern in allen Schulgesetzen verankert werden. Und drittens sollen Kultusministerinnen und -minister Sorge dafür tragen, dass Schulen für betroffene ehemalige Schülerinnen und Schüler Verantwortung übernehmen und sich aktiv um Aufarbeitung bemühen und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.

Hier können sie die Videoschnitte der Veranstaltung nachschauen

Weitere Einblicke darüber, was Betroffene zum Tatort und Schutzraum Schule gegenüber der Kommission bisher berichtet haben, finden Sie in den folgenden zwei Veröffentlichungen:

Tatort Schule
Klassenzimmer, Turnhalle oder Schulbibliothek: Betroffene beschreiben, wie Missbrauch an einem Ort hoher sozialer Kontrolle möglich werden konnte.

Schutzraum Schule
Betroffene beschreiben, wie sie bei Lehrerinnen und Lehrern Hilfe gesucht haben: Was hat ihnen geholfen und was nicht?

Alle Fotos: ©Eventfotografen.berlin


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