Ergebnisse aus Forschungsprojekt "Auf-Wirkung" veröffentlicht


17.08.2021 Das Verbundprojekt „Auf-Wirkung - Aufarbeitung für wirksame Schutzkonzepte in Gegenwart und Zukunft“, an dem bundesweit fünf Forschungsinstitute beteiligt waren, beschäftigte sich mit der Frage, wie Aufarbeitung auf der Basis von Berichten betroffener Menschen einen Beitrag zum Schutz von Kindern und Jugendlichen leisten kann. Es schließt damit an Erfahrungen und Analysen der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ an, geht aber über die Fragestellung der Kommission hinaus, weil es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Blick nimmt.


Das Projekt wurde im Rahmen der zweiten Förderlinie zu sexualisierter Gewalt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Es wurde dezidiert nach Schlussfolgerungen aus den Anhörungen der Aufarbeitungskommission für die heutige Prävention und Intervention gefragt. Zunächst haben vier der fünf Teilprojekte Transkripte von Anhörungen und schriftliche Berichte analysiert und ihre Erkenntnisse danach mit Fokusgruppen diskutiert. Daran nahmen je nach dem Forschungsthema der Teilbereiche Lehrkräfte, Fachkräfte aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Rechtswissenschaften/Justiz, Kriminologie, Jugendliche und Heranwachsende sowie Betroffene teil.

Die Rückkopplung mit den Teilnehmenden der Fokusgruppen zu den Auswertungsergebnissen war wichtig, um daraus für gegenwärtige Aufarbeitungs-, Schutz- und Präventionsprozesse zu lernen. Denn die Mehrzahl der ausgewerteten Anhörungen bezog sich auf sexualisierte Gewalt in der Zeit vor 1970. Die gesellschaftlichen Diskurse zu Erziehung und Sexualität aber, so die Autorinnen und Autoren, haben sich seitdem erheblich verändert. Körperliche und emotionale Gewalt und die Tabuisierung der Sexualität in der Erziehung habe in den Tatzeiträumen zur „Normalität“ gehört. Erst nachdem Gewalt in der Erziehung massiv problematisiert wurde, kam es zu Gesetzesänderungen im Sinne des Kindeswohls. Ein neuer Diskurs zum Thema Sexualität führte zur Enttabuisierung von Sexualität und zu einer veränderten Sexualpädagogik sowie zu einem kritischen Blick auf sexualisierte Gewalt. Die neuen Diskurse wiederum veränderten auch den wissenschaftlichen Rückblick auf die vergangenen Zeiten. Das Fazit der Autorinnen und Autoren:

Die historische Rekonstruktion und Reflexion von Gewaltverhältnissen ist eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von Bedingungen, die die Lebenswelt von Heranwachsenden heute und in Zukunft bestimmen sollten.

Die Teilprojekte

Das Verbundprojekt gliederte sich in fünf Teilprojekte. Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main widmete sich der Frage, wie Betroffene Erfahrungen erlittener sexualisierter Gewalt verstehen, und welche Rolle dabei Prozesse des Anvertrauens spielen. Dabei ging es schwerpunktmäßig um die Frage, welche Rolle sogenannte „Dritte“ in Prozessen des Anvertrauens in pädagogischen Institutionen einnehmen, also jene Personen, die weder Täter*innen, noch die betroffene Person selbst sind, sondern vielmehr das Umfeld abbilden, in dem sich die Gewalt ereignen konnte. Die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen mit Dritten waren dabei selten hilfreich oder führten zur Aufdeckung oder Beendigung des Missbrauchs. In den Diskussionen wünschten sich Heranwachsende zentral implementierte und gesetzlich verpflichtende Fort- und Weiterbildungssysteme zum Thema sexualisierte Gewalt, wobei die Schule als eine Schlüsselinstitution angesehen wurde. Präventionsmaßnahmen sollten jedoch nicht von Lehrkräften, sondern von externen Fachreferent*in durchgeführt werden.

Das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg beschäftigte sich mit Machtstrukturen und Machtbeziehungen in stationären pädagogischen Einrichtungen. Dafür wurden die Berichte Betroffener untersucht, die in Kindheit und Jugend in Heimen und Internaten, Jugendwerkhöfen der DDR sowie in der Psychiatrie untergebracht waren. Es wurden Faktoren identifiziert, die das Gefährdungspotential erhöhten, vor allem, wenn sie Teil der Organisationskultur einer Einrichtung waren: wenn sexuelle Gewalt öffentlich sichtbar in der Einrichtung stattfinden konnte, Taten bei Verantwortlichen der Institution bekannt waren und sexuelle Übergriffe ignoriert bzw. verleugnet wurden, sowie Gewalt unter Kindern und Jugendlichen akzeptiert war. In den Fokusgruppendiskussionen mit Jugendlichen spielten diese Dimensionen teilweise keine Rolle mehr, da sich die Maßstäbe der Erziehung seit damals weiterentwickelt haben. Wohl aber wurden Fragen von Privatheit und sicheren Rückzugsräumen, die Qualität der Beziehungen zu pädagogischen Fachkräften, und der Wunsch nach klaren Regeln und Grenzen diskutiert.

Das Universitätsklinikum Hamburg untersuchte in seinem Teilprojekt Hindernisse, mit denen sich Betroffene bei der Bewältigung der erlebten sexuellen Übergriffe konfrontiert sehen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler identifizierten dabei fünf Dimensionen, nämlich den individuellen Umgang mit sexualisierter Gewalt, den Prozess des Sich-Anvertrauens, den Umgang Dritter mit sexualisierter Gewalt, manipulative Täter*innenstrategien, sowie Hürden im staatlichen Rechts- und Gesundheitssystem. Die Fokusgruppen mit Fachkräften konstatierten in der Befragung trotz steigenden gesellschaftlichen Bewusstseins weiterhin Hürden für die individuelle Bewältigung. Betroffenen fehle es vor allem an Zugang und Unterstützung zu wichtigen (Hilfe-)Systemen. Diese sollten überdies mit weniger Wartezeiten verbunden sein.

Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung München untersuchte, welche Prozesse, welche Beziehungen und Anerkennungsräume die Bearbeitung von Gewalterfahrungen erleichtern. Dabei wurden soziale, gesellschaftliche und individuelle Ressourcen identifiziert, auf die Betroffene im andauernden Prozess der Bewältigung zurückgreifen. Als bedeutend wurde in einigen Anhörungen genannt, dass seit den Aufarbeitungsdebatten nach 2010 mehr Raum für die individuelle Bewältigung entstanden sei. Wichtig war es vielen Betroffenen auch, sich von der Opferrolle zu lösen.

Die Menschen sind nicht schwach, sondern die andauernden Steine und Hürden sind real und verweisen auf die Stärke, die andauernd notwendig ist, um sich vor der real erlebten Gefahr zu bewahren.

Im fünften Teilprojekt ging die Universität Rostock der Frage nach, welchen Beitrag Formen und Orte kollektiven Erinnerns leisten können, um Aufarbeitung als gesellschaftliches Problem jenseits der individuellen Leiderfahrung ernst zu nehmen. Dafür untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Berichte unterschiedlicher Aufarbeitungskommissionen in verschiedenen Ländern. Darüber hinaus wurden Initiativen zur Einrichtung und Gestaltung von Erinnerungsorten untersucht. Als entscheidender Faktor für die „Vergesellschaftung“ der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt wurde dabei die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Institutionen gesehen, die staatliche Institutionen mit einem nicht angemessenen Umgang mit Gewalt gegen Heranwachsende konfrontieren und einen Wandel einfordern.

Orientierung für den Umgang mit sexualisierter Gewalt

Aus den Anhörungsdokumenten konnten die Teams der fünf Teilprojekte Orientierungspunkte ableiten, die für die Entwicklung von Schutzkonzepten relevant sind.

So hat ausbleibender institutioneller Schutz gekoppelt mit struktureller Gefährdung das Leben der angehörten Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt. Verbesserungen in diesem Bereich hinsichtlich der Entwicklungschancen und der Bedingungen für das Aufwachsen wurden als ein Ziel guter Pädagogik benannt. Als ein maßgeblicher Faktor der Gefährdung wurde die Rechtlosigkeit von Kindern und Jugendlichen und die ausgebliebene oder unzureichende Vermittlung von schützendem Wissen identifiziert. Institutionelle Schutzkonzepte müssten daher so entwickelt werden, dass sie die Rechte der Kinder und Jugendlichen stärken und ihnen ausreichende Kenntnisse vermitteln. Die angehörten Betroffenen erlebten vielfältige Hindernisse im Prozess der Bewältigung der erlebten Gewalt. Diese Erkenntnisse aus den Anhörungsdokumenten sollten genutzt werden, um auf institutioneller Ebene von Justiz, Fachberatung, Medizin und Psychotherapie für diese Erschwernisse zu sensibilisieren, beispielsweise in Fachliteratur, Studium und in Fortbildungen. Damit dies gelingen könne, sei neben der Vermittlung von Forschungsergebnissen eine Aufarbeitung in Institutionen, Wissenschaft und Fachverbänden erforderlich:

Ohne den selbstkritischen Blick zurück, fehlt einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft die verlässliche Basis.

Diskussionen um Empowerment und die Stärkung von Betroffenen können an die Berichte anknüpfen, die Ressourcen in der Auseinandersetzung mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt nennen. Nicht zuletzt stellt der aktuell beginnende Diskurs zu Erinnerungskulturen die Frage nach Gerechtigkeit als gesellschaftspolitisches Ziel. Als ein wichtiges Element von institutioneller Aufarbeitung wurde genannt: Anerkennung zu vermitteln dafür, dass Betroffene durch das Offenlegen ihrer Erlebnisse und Erfahrungen zur Demokratisierung des Wissens über sexuellen Missbrauch beitragen.

Zum Download der Studie auf den Seiten des Verbundprojekts.


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