Die Familie als ein Haupttatort sexuellen Kindesmissbrauchs muss stärker in den Fokus von gesellschaftlicher Aufarbeitung rücken


26.01.2021 Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat vor fünf Jahren ihre Arbeit begonnen. Mehr als 1.000 Betroffene aus dem Tatkontext Familie haben sich bisher bei ihr gemeldet. Die Kommission fordert, dass diesem größten Bereich von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit zukommt.


Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat vor fünf Jahren, am 26. Januar 2016, ihre Arbeit aufgenommen. Bisher haben sich rund 2.500 Betroffene sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bei ihr gemeldet, um über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft zu berichten. Mehr als 1.000 Personen haben der Kommission seitdem in einer vertraulichen Anhörung oder einem schriftlichen Bericht von sexualisierter Gewalt in der Familie berichtet.

Die Kommission ist weltweit die einzige, die sexuellen Kindesmissbrauch auch in der Familie untersucht. Gerade in diesem Bereich, in dem Kinder und Jugendliche besonderen Schutz, Fürsorge und Liebe erleben sollten, sind sie am häufigsten sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Darum wählte die Kommission 2016 die Familie als ersten Schwerpunkt ihrer Arbeit.

Prof. Dr. Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission: „Bei Betroffenen aus dem familiären Bereich besteht ein großes Bedürfnis, der Kommission mitzuteilen, was ihnen in Kindheit und Jugend widerfahren ist. Damit verbinden viele auch das gesellschaftliche Anliegen, dass die Familie als Tatort sexualisierter Gewalt untersucht wird und Familien selbst aufarbeiten. Meist bleiben betroffene Menschen allein mit den familiären Gewalterfahrungen und den Folgen, weil sich niemand verantwortlich fühlt. Allzu oft wird der Privatraum Familie höher gewertet als der Schutz betroffener Kinder.“

Betroffene aus allen sozialen Schichten schildern in den Anhörungen und schriftlichen Berichten familiäre Umstände, durch die es Tätern und Täterinnen möglich war, Kindern oft über einen langen Zeitraum sexuelle Gewalt anzutun. Sie berichten von Vätern, Großvätern, neuen Partnern, aber auch von Müttern oder Geschwistern, von denen die Gewalt ausging. Viele Betroffene nennen weitere Gewaltformen wie Missachtung, Vernachlässigung, Demütigung und Desinteresse. Seit den ersten Auswertungen der vertraulichen Anhörungen und schriftlichen Berichten beschäftigt sich die Kommission mit der Rolle der Mütter als Mitwissende, aber auch als Täterinnen.

Im Rahmen eines Forschungsprojektes konzentriert sich die Kommissionsvorsitzende Prof. Dr. Sabine Andresen mit ihrem wissenschaftlichen Team auf die gesellschaftliche Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie. „Das Ergebnis wird eine Fallstudie sein, die im Sommer dieses Jahres veröffentlicht wird. Sie dokumentiert die Formen und Umstände der sexualisierten Gewalt in Familien. Ein zentrales Zwischenergebnis ist, dass gelungene Hilfe für Betroffene davon abhängt, ob sexualisierte Gewalt – und andere Gewaltformen – in Familien benannt werden kann, verstanden und geglaubt wird“, so Andresen.

Die Kommission arbeitet kontinuierlich an diesem Tatkontext. Für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie sind darüber hinaus weitere Forschungen und Anstrengungen der Gesellschaft nötig. Insbesondere die Rolle von Jugendämtern und Familiengerichten muss aufgearbeitet werden. Hierzu wird die Kommission in diesem Jahr eine Fallstudie in Auftrag geben. Am Tatkontext Familie zeigt sich darüber hinaus besonders deutlich die dringende Notwendigkeit, Hilfs- und Beratungsangebote für Betroffene und Familienangehörige flächendeckend auszubauen. Diese Unterstützungsangebote sind eine wichtige Grundlage für die Aufarbeitung in Familien.

Nachdrücklich unterstützt die Kommission die Forderungen des Betroffenenrats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der im Dezember 2020 ein Impulspapier zur Familie als Tatort veröffentlicht hat. Darin wies der Betroffenenrat darauf hin, dass für viele Kinder und Jugendliche ihre Familie weder ein sicherer noch ein heiler Ort ist und alle Teile der Gesellschaft dafür verantwortlich sind, gerade auch bei diesem besonders privaten Bereich genau hinzuschauen, zu unterstützen und wenn möglich einzugreifen.

Um die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie weiter voranzubringen, ruft die Kommission weiterhin Betroffene sowie Angehörige oder Freunde von Betroffenen oder der Familie auf, ihr über die erlebte Gewalt zu berichten oder was sie darüber wissen und welche Erfahrungen sie gemacht haben. Mit ihrem Wissen können sie dazu beitragen, auch anderen zu helfen.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Kern der Untersuchungen sind vertrauliche Anhörungen von heute erwachsenen Betroffenen, die in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt in Institutionen, im familiären und sozialen Bereich sowie organisierten Strukturen ausgesetzt waren. Die Kommission ist angesiedelt beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Grundlage ihrer Einberufung war ein Beschluss des Deutschen Bundestages. Das Bundeskabinett hat 2019 die Laufzeit der Kommission bis Ende 2023 verlängert.

Betroffene sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der Kommission über sexuellen Kindesmissbrauch berichten möchten, können sich telefonisch (0800 4030040 – anonym und kostenfrei), per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden. Weitere Informationen zur vertraulichen Anhörung – auch online per Video - und zum schriftlichen Bericht sowie alle Kontaktdaten unter www.aufarbeitungskommission.de.


Pressekontakt

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Kirsti Kriegel
Telefon: +49 (0)30 18555-1571
Fax: +49 (0)30 18555-4 1571
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